Arthur Schnitzler

 

Frieden

Arthur Schnitzler: "Das große Lesebuch" Fischer Taschenbuch Verlag 2008 Seite 281

Welches ist denn das Charakteristikum für den Krieg? Der Tod? Jeder erfährt ihn, auch, wer nie im Krieg gewesen ist. Heroismus? Dafür gibt es innerhalb der menschlichen Kultur unzählige bessere Gelegenheiten. Leiden? Armut? Brutalität? In allen ihren verschiedenen Formen? Nur quantitativ istmhier das Ergebnis des Krieges dem der friedlichen Epochen voranzustellen.

Das Einzige, was dem Krieg eignet, ist die Wunde, die sinnlose Wunde im Körperlichen, und die Feindseligkeit, die sinnlose Feindseligkeit zwischen Menschen, die einander als Individuen ohne Hass, ja vielleicht mit Liebe gegenüberständen.

 

Wodurch werden Kriege möglich?

1. Durch die Schurkerei der Mächtigen, 2. die Dummheit der Diplomatie und 3. die Phantasielosigkeit der Völker.

Diese letzte wird unterstützt durch die in Geschichte und Politik übliche Flucht ins Abstrakte.

Schon die Mehrzahl an sich hat die geheimnisvolle Kraft das Konkrete ins Abstrakte umzuzaubern.

Tausend Verwundete stellen sich für die Phantasie keineswegs so schlimm dar wie ein Verwundeter. Sie bedeuten nicht tausendmal eins, auch nicht einenBruchteil von eins, sondern sogar etwas qualitativ anderes.....

Die Unfähigkeit der Menschen, selbst der phantasievollen, sich etwas "vorzustellen", ihre Phantasielosigkeit ist eine außerordentliche, immer wieder von neuem überraschende. Zu erklären ist sie nur als eine im Laufe der Zeiten entstandene innerliche Abwehr gegenüber der von den menschlichen Sinnen nicht zu ertragenden Grauenhaftigkeit der Welt.

Der vollkommene Mangel an Phantasie bedeutet Schwachsinn. Und dieser Schwachsinn, ganz in der pathologischen Bedeutung des Wortes gebraucht, ist der geistige Zustand der Menschheit, an dem nicht nur die große Masse, sondern selbst diejenigen Leute teilnehmen, die durch Anlage, Beruf und Entwicklung als verpflichtet gelten könnten, mit wachem Bewusstsein die Geschichte der Menschheit zu begleiten oder selbst zu beeeinflussen.

 

 

Ein ungeheueres Missverhältnis besteht zwischen der Empfindung, die den Soldaten bewegt, und dem Ausdruck der Geste, die er ihr notgedrungen geben muss. Er lädt ein Gewehr, drückt ab, hat gewiss nicht das Bewusstsein, dass er nicht nur ein Menschenleben zerstört (oder als Artillerist hundert), Dutzende von Beziehungen vernichtet, sondern er hat jedenfalls eine Empfindung, die dem Sportlichen viel mehr verwandt ist als dem Menschlichen... Auch hier, wie in allem, was mit Politik nur entfernt zusammen hängt, kommt es darauf an, die Leute im Unklaren zu lassen. Die ganze Weltgeschichte ist eine Intrige der Mächtigen gegenüber dem Bewusstsein und der Fantasie des Einzelnen, oder vielmehr der Masse.

Kriegsgräuel: Ein wehrloser Verwundeter wurde auf dem Schlachtfeld geblendet, verstümmelt, von einem Feind natürlich.

 

Ich weiß noch Ärgeres zu erzählen: ein Dutzend Soldaten saßen in einem Schützengraben, ein Schrapnell kam, der eine wurde blind, dem anderen wurde der Bauch aufgeschlitzt, dem dritten der Kehlkopf zerfetzt, dem vierten das ganze Gesicht weg gerissen, dem fünften zwei Arme und ein Bein zerschmettert und so weiter. Die nicht gleich tot waren, lagen stundenlang da in Durst, Martern, Höllenschmerzen, Todesangst. Es gab keine Möglichkeit, sich gegen das Schrapnell zu verteidigen. Auch davon laufen durften sie nicht, dann wären sie wegen Feigheit erschossen worden. Die Wehrpflicht hatte sie wehrlos gemacht.

Ihr wollt den Krieg menschlicher machen? Da müsste man ja die Menschen menschlicher machen. Und das scheint unmöglich. Nicht die Grausamkeit, die doch immer nur gewissermaßen als eine akute Krankheit auftritt, sondern die Gleichgültigkeit ist das furchtbare, weil gefährlichere und unüberwindlichere Übel. Denn gleichgültig sind wir im Grunde alle mehr oder weniger. Diese Gleichgültigkeit hat sich wahrscheinlich im Kampf ums Dasein entwickelt, da nur durch sie das Leben , das Weiterleben überhaupt, möglich wurde. Die Mitleidigen im wahren Sinn des Wortes (nicht die Sentimentalen) mussten aussterben. In Wirklichkeit sind wir alle ohne Mitleid. Was kümmern uns hunderttausend, die ein Erdbeben auf einem anderen Kontinent vernichtet? Was kümmern uns die zwanzigtausend Feinde, die gefallen sind? Was kümmern uns die zehntausend gefallenen Landsleute, wenn wir ganz ehrlich sein wollen, die Landsleute, die wir nicht kennen, die uns nichts bedeuten? Unser Herz sieht gerade zehn Schritte weit. Ja, unser Sohn, unser Bruder, unser Neffe, unser freund, meinetwegen unser guter Bekannter, um den tut es uns Leid, aber der Herr X aus Hintertupfing, der als schwer verwundet auf der Liste steht – schlägt unser Herz darum stärker? Ja, der Krüppel, der eben an uns vorbei hinkte, der blind Geschossene, den sie eben vorüberführen, der treibt uns vielleicht die tränen ins Auge, aber weinen wir tausend Mal mehr, wenn wir von tausend Krüppeln lesen? - Nein, nicht einmal so viel, wie wir beim Anblick des einen geweint haben. Wir sind völlig ohne Vorstellungsgabe. Eher haben wir noch Fantasie. Die Fantasie ist zuchtlos und geht ins Irre; daher sind wir ihr gewachsen. Wir haben das Recht, an ihre Bilder nicht zu glauben. Aber die konkrete Vorstellung wehren wir ab, wahrscheinlich auch darum, um überhaupt weiter leben zu können. Wieviel sind gestern gefallen? Entsetzlich! Am nächsten tag kommt die Korrektur: einundvierzigtausend. Schlägt unser Herz um diese tausend lauter? Und hierin liegt ein Teil der erklärung, dass nichts geschieht, dass in einem höheren Sinne nichts geschehen kann, was die Welt von Grund auf änderte. Denn ich rede nur von denen, die eine Art von Gewissen haben, die des Mitgefühls nicht ganz bar sind und die sogar den redlichen Willen haben, die Welt zu ändern. Diese Leute, es ist nicht daran zu zweifeln – ganz abgesehen von dem, was jedem privat begegnet - , leiden auch unter dem allgemeinen Übel und Grauen. Aber wie unbestimmt, wie vage, wie unsäglich schwach ist dieses Mitleid. Nun aber bedenke man, dass die große, die ungeheuere Mehrzahl der Menschheit so gut wie gefühllos ist, was die Allgemeinheit anbelangt, dass die ungeheuere Mehrzahl der Menschen um Ehre, um Ruhm, um Karriere, für einen Orden, um Geld zu verdienen, in jedem Augenblick bereit ist, tausende, hunderttausende Menschen in der jämmerlichsten Weise zu Grunde gehen zu lassen, wenn sie nicht selbst darunter sind, ja manche nehmen sogar dieses Risiko auf sich, worin sie eben durch jenen Mangel an Vorstellungsgabe unterstützt werden.

 

 

 

 

Niemals ist um irgendeine Idee Krieg geführt worden, es hat sich nie um etwas Anderes als um Machtkämpfe gehandelt, doch waren die Ideen als Vorwände, geglaubte oder ungeglaubte, niemals zu entbehren. Es ist eine historische Fälschung, dass der dreißgjährige Krieg ein Religionskrieg war. Beweis dagegen, dass schon wenige Jahre nach Beginn Protestanten im Heere des Kaisers und Katholiken bei seinen Gegnern kämpften. Und in der zweiten Hälfte war das prozentuelle Verhältnis geradezu verschoben.

 

Es lässt sich nicht nur beweisen, dass die Idden, um die Kriege geführt wurden, den Völkern oder den Heeren vorgespiegelt wurden, es lässt sich sogar beweisen, dass die Entfessler selbst entweder nicht an die Idee geglaubt haben, für die sie angeblich kämpften, oder dass sie Monomanen waren.

 

Hier spielt natürlich die insbesonders bei Politikern zu hoher Vollendung ausgebildete Kunst , die eigene Seele gebietsweise freiwillig ins Dunkel zu versetzen, eine große Rolle.

Man sagt, er ist den schönen Heldentod gestorben. Warum sagt man nie, er hat eine herrliche Heldenverstümmelung erlitten? Man sagt, er ist für das Vaterland gefallen. Warum sagt man nie, er hat sich für das Vaterland beide Beine amputieren lassen?

 

(Die Etymologie der Machthaber!)

 

Das Wörterbuch des Krieges ist von den Diplomaten, den Militärs und den Machthabern gemacht. Es sollte von denen richtiggestellt werden, die aus dem Krieg heimgekehrt sind, von den Witwen, den Waisen, den Ärzten und den Dichtern.

So lange der Krieg als eine Möglichkeit überhaupt in Betracht kommt, also, so lange es Berufszweige gibt, die auf die Möglichkeit eines Krieges gestellt sind, ferner, so lange es auch nur einen Menschen gibt, der durch den Krieg seinen Reichtum vergrößern oder solchen erwerben kann und der zu gleicher Zeit die Macht hat oder den Einfluss, einen Krieg herbeizuführen, genau so lange wird es Kriege geben. Und hier ist die Frage des Weltfriedens anzupacken, nirgends anders.

 

Weder in religiösen noch in philosophischen, noch in ethischen Motiven. Diese spielen absolut keine Rolle. Weder die Vernunft, noch das Mitleid, noch die Ehre dürfen wir mit der geringsten Aussicht auf Erfolg anrufen. Es handelt sich ausschließlich darum, die Ordnung der Welt so umzugestalten, dass kein Mensch, auch nicht ein einziger, weder in Freundes- noch in Feindesland, die geringste Aussicht hat, seine persönlichen Verhältnisse durch einen Krieg zu verbessern. Unmöglich? So lange das unmöglich ist, hat die Friedensbewegung nicht die entfernteste Ausssicht auf Erfolg. Mit Tiefsinn und Sentimentalitäten werdet ihr weder die Herzen der Diplomaten, noch die der Attaches, noch die der Generäle, noch die der Heereslieferanten rühren.

 

Quellen

 

Arthur Schnitzler: "Das große Lesebuch" Fischer Taschenbuch Verlag 2008 Seite 281ff