Frank O´Connor „Eine kleine Grube im Moor“

Friedensliteratur: Frank O´Connor
Friedensliteratur: Frank O`Connor "Eine kleine Grube im Moor"

Frank O´Connor „Eine kleine Grube im Moor“

 

In der Dämmerstunde pflegte der große Engländer Belcher seine langen Beine aus der heißen Asche zu ziehen und uns zu fragen: „Hallo, Kinder, wie wär´s?“ Und Noble oder ich antworteten dann: „Wie du meinst, Kamerad!“, und der kleine Engländer Hawkins zündete die Lampe an und holte die Karten hervor. An manchen Abenden kam auch Jeremiah Donovan und führte die Oberaufsicht über das Spiel. Er regte sich über Hawkins´ Karten auf (die er immer schlecht ausspielte) und schrie ihn an, als ob er einer von uns wäre: „Ich, du Saukerl, warum hast du denn nicht die Drei gespielt!“

 

Aber im Allgemeinen war Jeremiah ein so stiller und zufriedener armer Teufel wie der lange Engländer Belcher, und respektiert wurde er bloß, weil er sich auf Dokumente verstand, wenn´s auch langsam genug ging. Er trug einen kleinen Stoffhut und hohe Gamaschen über Straßenbeinkleidern, und selten habe ich seine Hände außerhalb seiner Hosentaschen gesehen. Wenn man mit ihm sprach, wurde er rot, wippte von den Zehen auf die Fersen und zurück und blickte die ganze Zeit auf seine großen Bauernfüße. Noble und ich hänselten ihn mit seiner ungewöhnlich breiten Aussprache, denn wir stammen beide aus der Stadt.

 

Damals konnte ich nicht begreifen, warum Noble und ich die zwei Engländer bewachen mussten. Ich war fest überzeugt, dass man die beiden in irgendeinen irischen Acker zwischen hier und Claregalway hätte stecken können, und sie hätten ebenso gut Wurzeln geschlagen wie ein einheimisches Unkraut. Noch nie in meinem kurzen Dasein hab´ ich gesehen, dass zwei Menschen sich so rasch ans Land gewöhnten.

 

Sie wurden uns vom zweiten Bataillon zur Verwahrung übergeben, als die Suche nach ihnen zu brenzlig wurde, und Noble und ich, jung, wie wir waren, übernahmen die Aufgabe mit großem Verantwortungsgefühl, aber damit machten wir uns bald vor dem kleinen Hawkins lächerlich, denn er bewies uns, dass er sich in der Gegend besser auskannte als wir.

 

„Du bist doch der Mann, den die anderen `Bonaparte´ nennen, was?“ fragte er mich. „Mary Brigid O´Connell hat mich gebeten, ich soll dich fragen, was du mit dem Paar Socken gemacht hast, die ihr Bruder dir geliehen hat.“ 

 

Sie erklärten uns, dass das zweite Bataillon kleine Abende veranstaltete, zu denen auch die Mädchen aus der Nachbarschaft erschienen, und weil unsere Jungen sahen, dass die beiden Engländer so anständige Burschen waren, konnten sie sie nicht gut übergehen, sondern luden sie ein, und standen bald ganz kameradschaftlich mit ihnen. Hawkins hatte sogar irische Tänze gelernt: „Die Mauern von Limmerick“, „Die Belagerung von Ennis“ und „Die Wellen von Tory“, und er tanzte so gut wie ein Ire. Natürlich konnte er sich nicht revanchieren und ihnen englische Tänze beibringen, denn damals tanzten unsere Jungen grundsätzlich keine ausländischen Tänze.

 

Was für Vorrechte Belcher und Hawkins also beim zweiten Bataillon genossen hatten, bekamen sie natürlich auch bei uns, und nach ein oder zwei Tagen verzichteten wir sogar auf den Anschein, sie zu überwachen. Nicht etwa, dass sie weit gekommen wären, denn sie hatten eine zu auffällig breite Aussprache und trugen Khaki-Jacken und –Mäntel zu Zivilisationshosen und Stiefeln. Aber ich glaube felsenfest, dass sie nicht den leisesten Fluchtgedanken hegten, sondern ganz zufrieden waren, hier bei uns zu sein.

 

Nun war es köstlich mit anzusehen, wie Belcher mit der alten Frau fertig wurde, in deren Häuschen wir wohnten. Sie war ein Zankteufel ohnegleichen und benahm sich selbst zu uns reichlich verschroben, doch ehe sie auch nur Gelegenheit hatte,  unsere Gäste (wie ich sie nennen möchte) mit ihrem Zungenschlag bekannt zu machen, hatte Belcher sie bereits als lebenslängliche Freundin gewonnen. Sie zerkleinerte gerade Feuerholz, und Belcher, der noch keine zehn Minuten im Haus war, sprang von seinem Stuhl auf und ging zu ihr hinüber.

 

„Erlauben Sie, Ma´am“, sagte er mit seinem eigentümlichen Lächeln, „lassen Sie mich nur machen!“, und damit nahm er ihr das alte Beil aus der Hand. Der Schlag rührte sie fast, so dass sie nichts entgegnen konnte. Von da an war Belcher dauernd hinter ihr her und trug ihr den Eimer oder den Korb oder eine Last Torf – wie es gerade kam. Wie Noble sehr richtig bemerkte, sah er alles, noch ehe sie daran dachte, und hatte heißes Wasser und sonst was bereit, was sie etwa brauchen konnte. Für einen so langen Menschen (denn wenn ich auch fünf Fuß zehn messe, muss ich doch zu ihm aufsehen), für einen so langen Laban war er erstaunlich kurz angebunden – oder soll ich´s gar stumm nennen? Es dauerte einige Zeit, bis wir uns daran gewöhnt hatten, dass er wie ein Geist, ohne ein Wort zu sprechen, ein und aus ging. Besonders, weil Hawkins so viel wie eine ganze Kompagnie schwadronierte, war es seltsam, wenn man hin und wieder mal den langen Belcher hörte, der sich die Zehen in der heißen Asche wärmte und ein einsames „Verzeihung, Kamerad“ oder „Schon recht, Kamerad“ hervor brachte. Die Karten waren seine einzige Leidenschaft, und ich muss zugeben, dass er gut spielte. Er hätte mich und Noble gehörig rupfen können, aber was wir an ihn verloren, verlor Hawkins an uns, und Hawkins spielte mit dem Geld, das Belcher ihm gab.

 

Hawkins verlor an uns, weil er zu viel zu schwatzen hatte, und wir verloren wahrscheinlich aus gleichem Grunde an Belcher. Hawkins und Noble konnten sich bis in die frühen Morgenstunden giftig über Religion ereifern, denn Hawkins beunruhigte Noble (dessen Bruder ein Priester war) bis in die Tiefen seiner Seele mit einer Reihe von Fragen, die sogar einen Kardinal aus der Fassung bringen konnten. Und was schlimmer war: Hawkins hatte ein bedauerlich freches Mundwerk, selbst wenn es um Heiliges ging. In meinem ganzen Leben habe ich noch nie einen Menschen getroffen, der seine Diskussionen mit einer solchen Auswahl an Flüchen und Schimpfwörtern spickte. Er war ein schrecklicher Mensch, und mit ihm zu diskutieren war entsetzlich. Arbeiten tat er überhaupt nicht, und wenn er niemand zum Schwatzen fand, dann musste die alte Frau herhalten.

 

Doch sie war ihm gewachsen, denn eines Tages, als er sie dahin gebracht hatte, sich unfromm über die Trockenheit zu beklagen, legte sie ihn gründlich herein, indem sie einzig und allein Jupiter Pluvius die Schuld gab (einer Gottheit, von der weder Hawkins, noch ich je gehört hatten, obschon Noble sagte, die Heiden glaubten, er habe etwas mit dem Regen zu tun). Ein andermal fluchte er über die Kapitalisten, die den Weltkrieg angezettelt hätten, doch die alte Frau stellte ihr Bügeleisen hin, verzog ihren grämlichen, kleinen Mund und sagte: „Herr Hawkins, Sie dürfen mir über den Krieg erzählen,  soviel Sie wollen, und sich einbilden, Sie könnten mir etwas vormachen, weil ich eine einfache alte Frau vom Lande bin, aber ich weiß, wer den Krieg angefangen hat. Es war der italienische Graf, der aus dem Tempel in Japan ein heidnisches Götterbild gestohlen hat. Glauben Sie mir, Herr Hawkins, nichts als Kummer und Sorge bricht über den herein, der die verborgenen Kräfte stört!“ Ja, sie war wirklich eine verschrobene Alte.

 

Eines Tages tranken wir zusammen unsern Tee, und Hawkins zündete die Lampe an, und wir setzten uns alle zum Kartenspielen zurecht. Jeremiah Donovan kam auch, setzte sich und sah uns ein Weilchen zu, und plötzlich merkte ich, dass er zu den beiden Engländern nicht sehr nett war. Es war sehr überraschend für mich, denn etwas Ähnliches war mir vorher nie an ihm aufgefallen.

 

Spätabends kam es zwischen Hawkins und Noble zu einem richtig erbitterten Streit über Kapitalisten und Priester und Vaterlandsliebe.

 

„Die Kapitalisten“, sagte Hawkins und schluckte ärgerlich, „bezahlen die Priester dafür, dass sie euch was vom Jenseits vorerzählen, damit ihr nicht merkt, wie es die Schweinebande hier im Diesseits treibt.“

 

„Unsinn, Mann“, rief Noble und verlor die Beherrschung. „Die Menschen haben ans Jenseits geglaubt, als von Kapitalisten noch gar keine Rede war!“

 

Hawkins erhob sich, als ob er eine Predigt halten wollte.

„Nein, so was! Wirklich?“ höhnte er. „Also glaubst du all das, was sie glauben – das wolltest du doch sagen, nicht wahr? Und du glaubst, dass Gott den Adam schuf, und Adam den Sem, und Sem den Josaphat. Du glaubst an all die dummen alten Märchen von Eva und dem Paradiesgarten und dem Apfel. Nun hör mal gut zu, Kamerad! Wenn du das Recht hast, an so einer dummen Ansicht festzuhalten, dann hab´ ich auch das Recht, an meiner dummen Ansicht festzuhalten, nämlich: Das erste Wesen, das Gott schuf, war ein Sauhund von Kapitalist, komplett mit Moral und Rolls-Royce! – Hab´ ich Recht, Kamerad?“ fragte er Belcher.

„Hast Recht, Kamerad“, antwortete Belcher mit seinem belustigten Lächeln und stand auf, um seine langen Beine ans Feuer zu halten und sich über den Schnurrbart zu streichen. Als ich daher sah, dass Jeremiah Donovan aufbrechen wollte und dass Hawkins´ Diskussion über die Religion noch endlos andauern konnte, ging ich mit Donovan nach draußen. Wir schlenderten zusammen bis zum Dorf, und dann blieb er stehen, wurde rot und brummte etwas vor sich hin, ich solle lieber umkehren und auf die Gefangenen Acht geben. Mir passte der Ton nicht, den er mir gegenüber anschlug, und überhaupt fand ich das Leben im Häuschen langweilig, deshalb erwiderte ich, warum wir sie, zum Teufel, überhaupt bewachen sollten. Ich erklärte ihm auch, dass ich´s alles mit Noble besprochen hätte und dass wir lieber draußen bei einer Kampfkolonne wären.

„Was nützen uns die Burschen denn?“ fragte ich.

Er sah mich überrascht an und sagte: „Ich dachte, ihr wüsstet, dass wir sie als Geiseln halten?“

„Als Geiseln?“ fragte ich.

„Die Feinde halten ein paar von unseren Leuten gefangen“, sagte er, „und jetzt heißt es, sie wollen sie erschießen. Wenn sie aber unsere Leute erschießen, dann erschießen wir auch ihre.“

„Erschießen?“ rief ich.

„Na, was glaubst du denn, wofür wir sie sonst aufbewahren?“

„Das war aber sehr unüberlegt von euch“, entgegnete ich, „dass ihr Noble und mich nicht von Anfang an aufgeklärt habt!“

„Wieso denn?“ rief er. „Ihr hättet´s ja wissen können.“

„Wir konnten´s nicht wissen, Jeremiah Donovan“, sagte ich. „Und wo wir schon so lange mit ihnen zusammen sind!“

„Die Feinde halten unsere Leute ebenso lange gefangen, wenn nicht länger“, antwortete er mir.

„Das ist doch nicht das Gleiche“, sagte ich.

„Was soll denn da für ein Unterschied sein?“ fragte er.

 

 

Ich konnt´s  ihm nicht sagen, weil ich wusste, er würde es doch nicht verstehen. Wenn sich´s auch bloß um einen alten Hund handelt, der bald ´ne Spritze vom Tierarzt bekommen muss, dann passt man doch auf, dass er einem nicht zu sehr ans Herz wächst – aber der Donovan, das war einer, dem sowas nicht nahe ging.

„Und wann soll die Sache entschieden werden?“ fragte ich.

„Vielleicht heute Abend“, sagte er. „Oder morgen. Oder spätestens übermorgen. „Wenn das also dein ganzer Kummer ist, dass es dir hier zu langweilig wird, dann ist´s bald Schluss damit.“

 

Aber die Langeweile war jetzt ganz und gar nicht mein Kummer. Als ich ins Häuschen zurückkehrte, war die Diskussion noch im vollsten Gange. Hawkins predigte noch auf seine schönste Manier und behauptete, es gäbe kein Leben nach dem Tode, und Noble behauptete das Gegenteil, aber ich merkte doch, dass Hawkins Sieger war.

 

„Weißt du was, Kamerad?“ sagte er mit dreistem Grinsen. „Ich finde, du bist ebenso verdammt ungläubig wie ich. Du sagst, du glaubst ans Jenseits, aber du weißt genauso wenig darüber wie ich, nämlich rein gar nichts. Wie ist der Himmel? Das weißt du nicht. Du weißt verdammt gar nix. Ich frag dich jetzt noch mal: Haben sie Flügel?“

„Ja doch ja“, sagte Noble, „sie haben Flügel. Genügt dir das? Sie haben Flügel.“

„Und woher bekommen sie ihre Flügel? Wer macht sie ihnen? Haben sie eine Flügelfabrik? Haben sie eine Art Laden, wo man sein Zettelchen abgibt und seine verdammten Flügel bekommt?“

„Mit dir kann man einfach nicht reden!“ sagte Noble. „Jetzt hör mal her!“ Und schon ging´s wieder los.

 

Mitternacht war längst vorbei, als wir zuschlossen und zu Bett gingen. Als ich die Kerze ausblies, erzählte ich Noble, was mir Jeremiah Donovan gesagt hatte. Noble nahm es sehr ruhig auf. Als wir etwa eine Stunde im Bett gelegen hatten, fragte er mich, ob ich meinte, wir sollten es den Engländern sagen. Ich fand, wir sollten es nicht sagen, denn es war viel wahrscheinlicher, dass die Engländer unsere Leute nicht erschießen würden, und wenn es doch geschah, würden die Brigadeoffiziere, die ständig zum zweiten Bataillon kamen und die Engländer gut kannten, wahrscheinlich nicht dulden, dass die beiden umgelegt würden. „Das glaube ich auch“, sagte Noble. „Es wäre furchtbar grausam, ihnen jetzt Angst zu machen.“

„Jedenfalls war es sehr unüberlegt von Jeremiah Donovan“, antwortete ich.

 

Am nächsten Morgen aber fanden wir es sehr schwierig, Belcher und Hawkins gegenüber zu treten. Wir gingen im Haus herum und sagten den ganzen Tag kaum ein Wort. Belcher schien es nicht zu bemerken; er saß wie immer vor der heißen Asche und schien wie immer in Ruhe abzuwarten, ob sich etwas Unvorhergesehenes ereignen würde. Hawkins jedoch bemerkte es und führte es auf die Tatsache zurück, dass er Noble am Abend vorher in der Diskussion besiegt hatte.

 

„Warum kannst du eine Diskussion nicht auffassen, wie sich´s gehört?“ fragte er. „Du mit deinem Adam und deiner Eva! Ich bin Kommunist, jawohl, das bin ich! Kommunisten oder Atheisten – das kommt schließlich auf das Gleiche heraus.“ Und stundenlang lief er noch im Haus herum und brummelte etwas, wenn ich gerade die Stimmung überkam. „Adam und Eva! Konnten nichts Besseres mit ihrer Zeit anfangen, als blöde Äpfel zu pflücken!“

 

Ich weiß nicht, wie wir den Tag überstanden, aber ich war sehr froh, als wir ihn hinter uns hatten, als das Geschirr abgeräumt war und als Belcher auf seine friedfertige Art sagte: „Hallo, Kinder! Wie wär´s!“  Wir setzten uns um den Tisch, und Hawkins holte die Karten hervor, und gerade dann hörte ich Jeremiahs Schritt auf dem Weg draußen, und eine dunkle Ahnung packte mich. Ich stand auf und fing ihn ab, noch ehe er bei der Tür anlangte.

 

„Was willst du?“ fragte ich.

„Eure beiden Freunde“, sagte er und wurde rot.

„Ist das im Ernst gemeint, Jeremiah Donovan?“

„Es ist im Ernst gemeint“, sagte er. „Heute früh haben sie vier von unseren Leuten erschossen, und darunter auch einen sechzehnjährigen Jungen!“

„Das ist schlimm“, sagte ich.

Im gleichen Augenblick kam mir Noble nach, und dann gingen wir drei den Gartenweg hinunter und unterhielten uns flüsternd. Der Nachrichtenoffizier Feeney stand am Gartentor.

„Was willst du jetzt unternehmen?“ fragte ich Jeremiah Donovan.

„Ich möchte, dass du und Noble sie nach draußen bringen. Sagt ihnen, sie kämen zu einer anderen Gruppe. Dann geht´s am ruhigsten ab!“

„So was mach ich nicht!“ stieß Noble hervor.

Jeremiah Donovan blickte ihn scharf an. „Meinetwegen – dann gehst du mit Feeney zum Schuppen; holt euch Geräte und grabt am andern Ende vom Moor eine Grube. Bonaparte und ich kommen euch nach. Lasst euch aber ja nicht mit den Geräten erblicken! Ich möchte nicht, dass es plötzlich zu viel für uns beide wird!“

 

Wir sahen, wie Feeney und Noble ums Haus und zum Schuppen gingen. Dann traten wir ein, und ich überließ Jeremia Donovan die Erklärungen. Er sagte ihnen, er habe Order erhalten, sie zum zweiten Bataillon zurück zu schicken. Hawkins ließ ein Maul voll Flüche los, und auch Belcher merkte man es an – obwohl er kein Wort sagte -, dass er etwas unruhig war. Die alte Frau war dafür, sie uns zum Trotz bei sich zu behalten, und ich hörte nicht auf, ihnen gute Ratschläge zu geben, bis Jeremiah Donovan schließlich die Geduld verlor und sie anschnauzte. Er war ekelhafter Laune, wie mir auffiel. In der Hütte war es inzwischen stockdunkel geworden, aber keiner dachte daran, die Lampe anzuzünden, und die beiden Engländer griffen im Dunkeln nach ihren Mänteln und verabschiedeten sich von der alten Frau.

 

„Kaum fühlt man sich mal zu Hause, da glaubt schon irgendein Hurensohn im Hauptquartier, es ginge einem zu lausig wohl, und schiebt einen wieder ab, verdammt!“ sagte Hawkins und schüttelte ihr die Hand.

 

„Tausend Dank, Madame“, sagte Belcher. „Tausend Dank für alles!“ – als ob er es selbst  verschuldet hätte.

 

Wir gingen ums Haus herum auf die Rückseite, und dann zum Moor hinunter. Jeremiah Donovan erzählte es ihnen erst unterwegs. Er zitterte vor Aufregung. „Heute früh sind vier von unseren Leuten in Cork erschossen worden, und jetzt sollt ihr erschossen werden – als Vergeltung.“

„Wovon redest du eigentlich?“ fuhr ihn der kleine Hawkins an. „Schon schlimm genug, die Menschen so herum zu schubsen wie unsereinen – auch ohne deine blöden Witze!“

„Es ist kein Witz“, erwiderte Donovan. „Tut mir Leid, Hawkins, aber es ist wahr.“ Und dann stimmte er die übliche Leier von Pflichterfüllung an, und wie unangenehm es wäre, und die Vorgesetzten….

„Lass den Quatsch!“ rief Hawkins gereizt.

„Kannst ja Bonaparte fragen!“ sagte Donovan, als er merkte, dass Hawkins ihm nicht glaubte. „Stimmt´s, Bonaparte?“

„Ja“, sagte ich, und Hawkins blieb stehen.

„Aber um Gottes Willen, Kamerad!“

„Dich, ´s ist wahr, Kamerad!“ sagte ich.

„Bei dir hört sich´s nicht so an, als ob du´s im Ernst meinst!“

„Aber bei mir!“ rief Donovan und wurde allmählich erbittert.

„Was hast du denn gegen mich, Jeremiah Donovan?“

„Ich hab´ noch nie behauptet, dass ich was gegen dich hätte. Aber warum müssen eure Leute vier von unseren Gefangenen nehmen und kaltblütig erschießen?“

 

Er packte Hawkins am Arm und zerrte ihn weiter, konnte es ihm aber nicht begreiflich machen, dass es Ernst war. Ich hatte einen Revolver in der Tasche und fingerte ständig daran herum und überlegte, was ich tun sollte, wenn sie sich wehrten oder ausrissen, und ich wünschte von Herzen, sie würden eins oder das andere tun. Ich wusste, dass ich bestimmt nicht auf sie schießen würde, wenn sie ausrissen. Hawkins wollte wissen, ob Noble auch damit zu tun hatte, und als wir „Ja“ sagten, fragte er, warum Noble ihn umlegen wollte. Und warum wir anderen ihn umlegen wollten? Was hatte er uns getan? Waren wir nicht alle Kameraden? Wir verstanden ihn doch! Und er verstand uns doch! Glaubten wir denn auch nur eine Sekunde lang, dass er uns erschießen würde, selbst wenn´s alle Hm-hm-Offiziere in der hm-hm-britischen Armee befahlen?

 

Mittlerweile hatten wir das Ende des Moors erreicht, und mir war so elend zu Mute, dass ich ihm nicht antworten konnte. Wir gingen am Rande entlang, und jeden Augenblick blieb Hawkins  stehen und begann wieder von vorne – als ob er wie ein Uhrwerk aufgezogen würde -, dass wir doch Kameraden seien. Dabei wusste ich, dass nichts anderes als der Anblick der offenen Grube ihn überzeugen könnte, dass wir´s tun mussten. Und die ganze Zeit über hoffte ich, es würde noch etwas geschehen: dass sie ausreißen würden oder dass Noble mir die Verantwortung abnehmen würde.

 

Endlich sahen wir in einiger Entfernung die Laterne und hielten darauf zu. Noble hatte sie in der Hand, und Feeney stand irgendwo im Dunkeln hinter ihm, und das Bild – wie sie so still und stumm im Torfmoor standen – machte es mir deutlich, dass es wirklich Ernst war, und damit verschwand der letzte Funken Hoffnung, den ich noch hatte.

 

Belcher erkannte Noble und rief auf seine ruhige Art: „Hallo, Kamerad.“ Hawkins aber fuhr sofort auf ihn los, und die Fragerei ging wieder von vorne an, nur dass Noble diesmal gar nichts zu seinem Gunsten vorbringen konnte, sondern mit gesenktem Kopf da stand, während ihm die Laterne zwischen den Beinen baumelte.

 

Jeremiah Donovan übernahm es, für ihn zu antworten.  Zum zwanzigsten Mal – als ob es ihn wie ein Spuk verfolgte – fragte Hawkins, wer hier etwa glaube, dass er Noble erschießen könnte. 

„Doch, das würdest du tun“, sagte Jeremiah.

„Nein, das würd´ ich nicht tun, verdammt noch eins!“

„Doch, weil du wüsstest, sie würden dich erschießen, wenn du´s nicht tust.“

„Ich würd´s  nicht tun, und wenn sie mich zwanzig Mal erschießen wollten! Ich würde niemals einen Kameraden erschießen. Und Belcher auch nicht, stimmt´s Belcher?“

„Stimmt, Kamerad“, sagte Belcher, aber eher als Antwort auf die Frage – und nicht, um sich in den Streit einzumischen. Es klang so, als ob das Unvorhergesehene, auf das er immer gewartet hatte,  endlich eingetroffen sei.

 

„Und wer sagt überhaupt, dass Noble erschossen würde, wenn er mich nicht erschießt? Was meint ihr denn, dass ich tun würde, wenn ich an seiner Stelle wäre – mitten im verfluchten Torfmoor?“

„Was würdest du tun?“ fragte Donovan.

„Ich würde natürlich mit ihm gehen, einerlei, wohin. Ich würde meinen letzten Schilling mit ihm teilen und durch dick und dünn zu ihm halten. Von mir kann keiner erzählen, dass ich jemals einen Freund im Stich gelassen hätte:“

„Jetzt ist´s aber genug“, rief Jeremiah Donovan und spannte den Revolver. „Hast du jemandem eine Botschaft auszurichten?“

„Nein, niemandem!“

„Möchtest du ein Gebet sprechen?“

Hawkins gab eine freche Antwort, die sogar mich erschreckte, und dann wandte er sich wieder an Noble.

„Hör mal, Noble“, bat er, „du und ich, wir sind Kameraden! Du kannst nicht auf meine Seite überlaufen, also komm ich auf deine Seite! Verstehst du jetzt, was ich meine? Gib mir eine Knarre, dann zieh ich mit dir und den andern Jungen los.“

Keiner antwortete ihm. Wir wussten, das war kein Ausweg.

„Hörst du, was ich sage?“ fragte er. „Ich hab´s satt. Kannst mich fahnenflüchtig nennen, oder was du sonst willst. Ich glaub´ nicht an euern Kram, aber er ist nicht schlimmer als unsrer. Genügt dir das?“

Noble hob den Kopf, aber Donovan begann zu sprechen, und da ließ er ihn wieder sinken, ohne  zu antworten.

„Zum letzten Mal: Hast du eine Botschaft auszurichten?“ rief Donovan, und seine Stimme klang kalt und erregt.

„Halt den Mund, Donovan! Du verstehst mich nicht, aber die Jungen hier verstehen mich. Die sind nicht so, sich jemanden zum Freund zu machen und dann den Freund zu erschießen. Sie sind nicht das Werkzeug von Kapitalisten.“

 

Ich war der einzige, der sah, wie Donovan seinen Revolver auf Hawkins´ Nacken richtete, und als er es tat, machte ich die Augen zu und versuchte zu beten. Hawkins hatte gerade mit einem neuen Satz angefangen, als Donovan schoss. Beim Knall machte ich die Augen auf und sah, wie Hawkins torkelte und in die Knie sank und sich dann vor Nobles Füßen lang ausstreckte: genauso langsam und still wie ein kleiner Junge beim Einschlafen, und das Licht aus der Laterne spielte über seine mageren Beine und die blanken Bauernstiefel. Wir standen alle ganz unbeweglich und sahen zu, wie er im letzten Todeskampf zur Ruhe kam.

 

Danach zog Belcher ein Taschentuch hervor und versuchte, es sich über die Augen zu legen und zu verknoten (in unserer Aufregung hatten wir vergessen, es bei Hawkins ebenso zu machen). Als er merkte, dass es nicht groß genug war, drehte er sich um und bat mich, ihm meins zu leihen. Ich gab es ihm, und er knotete beide zusammen und zeigte mit der Fußspitze auf Hawkins.

„Er ist noch nicht ganz tot“, sagte er. „Gebt ihm lieber noch einen Schuss!“

Und tatsächlich, Hawkins hob das linke Bein hoch. Ich bückte mich und hielt meinen Revolver an seinen Kopf, besann mich aber und richtete mich wieder auf. Belcher verstand, was mir durch den Kopf ging.

„Gib´s ihm nur zuerst“, sagte er. „Mir macht´s nichts aus. Der arme Teufel! Wir wissen nicht, wie´s ihm zumute ist!“

 

Ich kniete nieder und schoss. Mir war, als wüsste ich schon nicht mehr, was ich tat. Belcher, der ein bisschen ungeschickt mit seinen Taschentüchern herumhantierte, lachte hellauf, als er den Schuss hörte. Noch nie hatte ich ihn lachen hören, und mir lief es kalt über den Rücken. Es klang so unnatürlich.

 

„Der arme Kerl!“ sagte er ruhig. „Und gestern Abend war er noch so wissbegierig! Ist doch komisch, Kameraden, finde ich: Jetzt weiß er so viel über alles, wie einer nur darüber wissen kann – und gestern Abend tappte er noch im Dustern!“

 

Donovan half ihm, die Binde über die Augen zu legen.

„Danke, Kamerad!“ sagte er. Donovan fragte, ob er eine Botschaft auszurichten habe.

„Nein, Kamerad!“ sagte er. „Nicht von mir, aber wenn einer von euch an Hawkins´ Mutter schreiben will: in seiner Brusttasche steckt ein Brief von ihr. Er und seine Mutter verstanden sich großartig. – Aber ich – mich hat meine Frau vor acht Jahren sitzen lassen. Ist mit einem anderen Burschen durchgebrannt und hat den Kleinen mitgenommen. Ich bin sehr für ein Zuhause, aber danach konnt´  ich nicht wieder von vorn´ anfangen.“

 

Es war ganz erstaunlich, dass Belcher in den paar Minuten mehr sprach als in all den vorangegangenen Wochen. Es war gerade so, als ob der Schuss einen Redefluss in ihm ausgelöst hätte, und als könnte er die lange Nacht durch so weiter machen und ganz glücklich über sich selbst erzählen. Wir standen wie Dummköpfe da, weil er uns ja nicht länger sehen konnte. Donovan blickte Noble an, und Noble schüttelte den Kopf. Dann hob Donovan den Revolver, und im gleichen Augenblick stieß Belcher wieder sein komisches Lachen aus. Vielleicht meinte er, wir hätten über ihn gesprochen, oder vielleicht war ihm zu Bewusstsein gekommen, woran auch ich hätte denken müssen, und er begriff es nicht.

 

„Entschuldigung, Kameraden“, sagte er. „Mir scheint, ich rede einen Haufen Zeugs zusammen, und so dumm obendrein: dass ich im Haus praktisch bin und so weiter. Die Sache kam so plötzlich! Verzeiht mir bitte!“

 

„Willst du kein Gebet sprechen?“ fragte Donovan.

„Nein, Kamerad“, sagte er. „Ich glaube nicht, dass es mir helfen würde. Ich bin bereit, und ihr wollt´s  gern´ hinter euch haben.“

 

„Du verstehst doch, dass wir´s bloß aus Pflichtgefühl tun?“ fragte Donovan.

 

Belcher hatte den Kopf wie ein Blinder erhoben, sodass man im Laternenschimmer nur sein Kinn und seine Nasenspitze sehen konnte.

„Ich habe nie so recht herausgebracht, was Pflicht eigentlich ist“, sagte er. „Ich weiß, dass ihr alle gute Burschen seid, wenn du das gemeint hast. Ich beklage mich nicht.“

 

Als könnte er es nicht länger ertragen, hob Noble die Faust und drohte Donovan, und im Nu hob Donovan den Revolver und schoss. Der lange Mensch plumpste wie ein Mehlsack um, und diesmal war ein zweiter Schuss nicht nötig.

 

Ich erinnere mich nicht mehr deutlich, wie wir sie begruben. Ich weiß nur, dass es schlimmer als alles andere war, sie so ins Grab zu schleppen. Verrückt einsam war es, nichts als der Fleck Laternenschimmer zwischen uns und dem Dunkel, und die Vögel riefen und kreischten ringsum, weil die Schüsse sie aufgeschreckt hatten. Noble untersuchte Hawkins´ Habseligkeiten, fand den Brief von seiner Mutter und faltete ihm dann die Hände auf der

Brust. Mit Belcher machte er es ebenso. Als wir das Grab zugeworfen hatten, trennten wir uns von Jeremiah Donovan und von Feeney und brachten die Geräte in den Schuppen zurück. Den ganzen Weg über sprachen wir kein Wort. Die Küche war dunkel und kalt, genau wie wir sie verlassen hatten, und die alte Frau saß vor dem leeren Kamin und hatte den Rosenkranz in den Händen. Wir gingen an ihr vorbei ins immer, und Noble strich ein Zündhölzchen an, um die Lampe anzuzünden. Sie stand ruhig auf und trat in die Türöffnung: von ihrer kratzbürstigen Natur war nichts mehr zu spüren.

„Was habt ihr ihnen angetan?“ fragte sie flüsternd, und Noble zuckte zusammen, sodass ihm das Streichholz in der Hand erlosch.

„Was soll das?“ fragte er, ohne sich umzudrehen.

„Ich hab´ euch gehört“, sagte sie.

„Was haben Sie gehört?“ fragte Noble.

„Ich hab´ euch gehört. Meint ihr, ich hätte nicht gehört, als ihr den Spaten wieder in den Schuppen gestellt habt?“

 

Noble zündete noch ein Streichholz an, und diesmal flammte die Lampe auf.

 

„War´s das, was ihr ihnen angetan habt?“ fragte sie.

Dann fiel sie, weiß Gott, mitten in der Tür auf die Knie und fing an zu beten, und nachdem Noble sie ein, zwei Minuten angesehen hatte, machte er´s wie sie und betete am Kamin. Ich drückte mich an ihr vorbei und überließ sie ihren Gebeten. Ich stand in der Haustür, blickte zu den Sternen auf und hörte, wie das Rufen der Vögel über dem Moor allmählich erstarb. Manchmal ist das, was man empfindet, so seltsam, dass man´s gar nicht beschreiben kann. Noble sagt, er hätte alles zehnmal so groß gesehen: als ob in der ganzen Welt nichts anderes wäre als die kleine Grube im Moor, in der die Engländer steif und kalt wurden. Bei mir aber war´s so, als ob die Grube im Moor Millionen Meilen weit weg wäre, und sogar Noble und die alte Frau, die hinter mir ihre Gebete sagten, und auch die Vögel und die dummen Sterne waren ganz weit weg, und ich war klein und ganz verlassen und einsam, Wie ein Kind, das sich im Schnee verirrt hat. Und was ich später auch noch erlebt haben mag – nie wieder war mir so zumute.

 

Quellen

O´Connor, Frank: "Eine kleine Grube im Moor" In: Keel, Daniel (Herausgeber): " ´s ist Krieg" Diogenes Verlag Zürich 1984, 2003 Vorwort von Albert Einstein

Seite 239ff