Gewalt ohne Halt von Lucy Engel

 

Gewalt ohne Halt von Lucy Engel

Ein Meer von Kerzen und Blumen ziert das Schaufenster der Apotheke, Bilder von unbekannten Menschen stehen auf dem Bürgersteig. Eine große Menschenschar, trotz Angst steht still, reglos in der Fußgängerzone. Ich mittendrin. Mein Blick ist auf das meiner Tochter, fünfzehn Jahre alt geheftet. Tot. Erschossen. Aus Hass. Sinnlos. Das Leben ist stehengeblieben. Gestern noch war die Straße voller Leben, heute war es so still, wie auf einem Friedhof. Denn der Hass kennt keine Grenzen, er greift wahllos um sich herum, befällt jeden, der blind vor Zorn ist, kein Sinn im Leben sieht und zu schwach ist, um die Lügen falscher Propheten als Hetzparolen zu erkennen. Sie kamen zu dritt und schossen. Erbarmungslos, einfach in die Menschenmasse hinein. Ob es ein Kind oder ein Alter, ob es ein Moslem, ein Jude oder ein Christ war, spielte keine Rolle. Hauptsache Terror verbreiten. Allah will es so. Fest sind sie davon überzeugt, genau wie jene Raubritter, die damals unter dem Bann des Kreuzes die Heilige Stadt Jerusalem zurückeroberten. Gott will es so, eigens dafür hat der Papst eine Bulle erlassen, die das Gebot, du sollst nicht töten, für Kreuzritter aufhebt. Vergessen war, dass Jesus mit Worte und Liebe bekehrte, nicht mit Hass.

Eine Frau in dunklem Tschador betritt die Szene, will Blumen niederlegen. Ein Mann schubst sie beiseite.

„Verschwinde.“

Sie sieht erschrocken zu ihm hoch, eine Menschentraube hat sich einer drohenden Mauer ähnlich hinter ihm aufgebaut. Hinter ihrem Schleier sehe ich Tränen. Sie bückt sich, um ein Bild der bereits aufgestellten Reihe hinzuzufügen. Der Mann packt sie grob am Arm, stößt sie zu Boden. Ich schließe die Augen, am liebsten wäre ich woanders, aber ich kann nicht fliehen. Der Hass darf nicht siegen. Ich ziehe meine Handschuhe aus und reiche ihr die Hand. Alle starren mich an.

 

„Was starrt ihr mich an? Sollen sie gewinnen und Zwietracht in unser Miteinander säen? Sie ist keine Mörderin, sondern eine Trauernde wie wir.“

 

Die Frau erhebt sich.

 

„Danke.“

 

Und mit einer Entschuldigung reicht der Schubser ihr seine Hand, bald stehen wir alle Hand in Hand in unserem Leid vereint und beten, jeder auf seine Art.

 

Quelle: Lucy Engel SdS Hamburg

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