Hermann Gilhaus: "Der Adler"

Friedensliteratur: Individualität
Fiedensliteratur: Gestaltungsmöglichkeiten

Hermann Gilhaus: Der Adler

Ein Mann ging in einen Wald, um nach einem Vogel zu suchen, den er mit nach Hause nehmen könnte. Er fing einen jungen Adler, brachte ihn heim und steckte ihn in den Hühnerhof zu den Hennen, Enten und Truthühnern. Und er gab ihm Hühnerfutter zu fressen, obwohl er ein Adler war, der König der Vögel.

            Nach fünf Jahren erhielt der Mann den Besuch eines naturkundlichen Mannes. Und als sie miteinander durch den Garten gingen, sagte der: „Der Vogel dort ist kein Huhn, er ist ein Adler!” – „Ja”, sagte der Mann, „das stimmt. Aber ich habe ihn zu einem Huhn erzogen. Er ist jetzt kein Adler mehr, sondern ein Huhn, auch wenn seine Flügel drei Meter breit sind.” „Nein”, sagte der andere. „Er ist noch immer ein Adler, denn er hat das Herz eines Adlers. Und das wird ihn hoch hinauffliegen lassen in die Lüfte.” – „Nein, nein” sagte der Mann, „er ist jetzt ein richtiges Huhn und wird niemals wie ein Adler fliegen.”

            Darauf beschlossen sie, eine Probe zu machen. Der naturkundliche Mann nahm den Adler, hob ihn in die Höhe und sagte beschwörend: „Der du ein Adler bist, der du dem Himmel gehörst und nicht dieser Erde: breite deine Schwingen aus und fliege!” – Der Adler saß auf der hochgestreckten Faust und blickte um sich. Hinter sich sah er die Hühner nach ihren Körnern picken, und er sprang zu ihnen hinunter. Der Mann sagte: „Ich habe dir gesagt, er ist ein Huhn.” – „Nein” sagte der andere, „er ist ein Adler. Ich versuche es morgen noch einmal.”

            Am anderen Tag stieg er mit dem Adler auf das Dach des Hauses, hob ihn empor und sagte: „Adler, der du ein Adler bist, breite deine Schwingen aus und fliege!” Aber als der Adler wieder die scharrenden Hühner im Hofe erblickte, sprang er abermals zu ihnen hinunter und scharrte mit ihnen.

            Da sagte der Mann wieder: „Ich habe dir gesagt, er ist ein Huhn.” „Nein”, sagte er andere, „er ist ein Adler und hat noch immer das Herz eines Adlers. Lass es uns noch ein einziges Mal versuchen; morgen werde ich ihn fliegen lassen. Am nächsten Morgen erhob er sich früh, nahm den Adler und brachte ihn hinaus aus der Stadt, weit weg von Häusern an den Fuß eines hohen Berges. Die Sonne stieg gerade auf, sie vergoldete den Gipfel des Berges, jede Zinne erstrahlte in der Freude eines wundervollen Morgens. Er hob den Adler hoch und sagte zu ihm: „Adler, du bist ein Adler. Du gehörst dem Himmel und nicht dieser Erde. Breite deine Schwingen aus und fliege!”

            Der Adler blickte umher, zitterte, als erfüllte ihn neues Leben – aber er flog nicht. Da ließ ihn der naturkundliche Mann direkt in die Sonne schauen. Und plötzlich breitete er seine gewaltigen Flügel aus, erhob sich mit dem Schrei eines Adlers, flog höher und höher und kehrte nie wieder zurück.

Friedensliteratur: Frieden durch Gestaltungsmöglichkeit
Friedensliteratur: Zum Frieden einladen

 

 

Gilhaus schrieb die Kurzgeschichte „Der Adler“, um nicht nur zur gewaltfreien Erziehung einzuladen, sondern zu einer Erziehung, die den Schwächeren zu seinem ureigenen Leben verhilft. Die geschilderte Situation ist aber auf den Umgang zwischen Ländern umlegbar: Ghandi sagte, er sei gegen Mission, denn man solle den Menschen nicht zu etwas anderen bekehren, sondern ihn zu einem besseren Anhänger seiner eigenen Weltanschauung machen. Auch ein Wirtschaftssystem sollte so angelegt sein, dass es nicht das Wirtschaftssystem einer anderen Kultur zerstört.

So gesehen lädt die Erzählung zum Frieden ein.

Quellen

Zitiert von Wolfram Kurz in: Sinnvoll leben lernen. Schriftenreihe des Instituts für Logotherapie und Existenzanalyse Tübingen/Wien, Heft 1, 1999; Verlag Lebenskunst, Tübingen, S. 41-42

 

http://de.wikipedia.org/wiki/Hermann_Gilhaus

29.6.2014