Leo Tolstoi: "Der Brand von Moskau"

Friedensliteratur: Verantwortung, Krieg und Frieden
Friedensliteratur: Friedensforschung, Krieg und Frieden

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Leo Tolstoi: "Der Brand von Moskau"

Am 2. September gegen zehn Uhr früh stand Napoleon unter seinen Truppen auf dem Poklonnaja-Berg und betrachtete das Bild, das sich vor ihm ausbreitete. Vom 26. August bis zum 2. September, von der Schlacht bei Borodino bis zum Einzug des Feindes in Moskau, an allen Tagen dieser erregten, denkwürdigen Woche war ungewöhnlich schönes Herbstwetter gewesen, das Wetter, über das die Menschen sich immer so wundern: die niedrig stehende Sonne wärmt mehr als im Frühling; alles in der dünnen, reinen Luft glänzt so, dass es die Augen beißt; die Brust wird beim Einatmen der deftigen Herbstluft stark und frisch, sogar die Nächte sind warm, und in diesen dunklen, warmen Nächten fallen unaufhörlich, die Menschen schreckend und freuend, Haufen goldener Sterne herab. 

Auch am 2. September um 10 Uhr morgens war solches Wetter.

Der Glanz des Morgens war zauberhaft. Vom Poklonaja-Berg aus gesehen, lag Moskau weit ausgebreitet da, mit seinem Flusse, seinen Gärten und Kirchen, und es schien sein eigenes Leben zu leben, mit seinen Kuppeln, die in den Strahlen der Sonne wie Sterne zitterten.

 

Beim Anblick dieser seltsamen Stadt mit den noch nie gesehenen Formen einer ungewöhnlichen Architektur empfand Napoleon jene fast neidische, unruhige Neugier, welche die Menschen beim Anblick der Formen eines fremden Lebens empfinden, das nichts von ihnen weiß. Diese Stadt lebte sichtlich ein eigenes, starkes Leben. Aus den unbestimmten Anzeichen, an denen man schon aus weiter Entfernung unfehlbar einen lebenden Körper von einem toten unterscheidet, sah Napoleon von Poklonnaja-Berg, wie das Leben in dieser Stadt bebte, und fühlte gleichsam das Atmen dieses großen, schönen Körpers.

 

Jeder Russe, der Moskau sieht, hat die Empfindung, dass diese Stadt eine Mutter ist; jeder Ausländer, der Moskau sieht und der die mütterliche Bedeutung der Stadt nicht kennt, muss doch ihren weiblichen Charakter empfinden: und Napoleon empfand ihn.

 

"Diese asiatische Stadt mit den unzähligen Kirchen, moscou la sainte! Da ist sie endlich, die berühmte Stadt. Es war hohe Zeit!" sagte Napoleon, stieg vom Pferde, befahl, einen Plan dieses Moscou vor ihm auszubreiten, und rief den Dolmetscher Lelorgne d´Ideville zu sich.

 

"Eine vom Feind besetzte Stadt gleicht einem Mädchen, das seine Ehre verloren hat", dachte er (wie er auch zu Tutschkow in Smolensk gesagt hatte). Und von diesem Gesichtspunkt aus betrachtete er die vor ihm liegende orientalische Schönheit, die er noch nie gesehen hatte). Es kam ihm selbst seltsam vor, dass sein lang gehegter Wunsch, der ihm unerfüllbar erschienen war, schließlich doch in Erfüllung gegangen war. In dem hellen Morgenlicht sah er bald auf die Stadt, bald auf den Plan, suchte sich die Einzelheiten heraus, und das Bewusstsein, nun im Besitz der Stadt zu sein, erregte und erschreckte ihn.

 

"Aber konnte es etwa anders kommen?" dachte er. "Da liegt jetzt diese Residenz zu meinen Füßen und erwartet ihr Schicksal. Wo ist jetzt Alexander, und was denkt er wohl? Seltsame, schöne, majestätische Stadt! Und seltsam und majestetisch ist auch diese Minute! In welchem Lichte mag ich ihnen erscheinen?" dachte er an seine Truppen. "Da ist sie, die Belohnung für alle diese Kleingläubigen", dachte er und sah sich nach den Herren seiner Umgebung und nach den heranrückenden und sich aufstellenden Truppen um. "Ein Wort von mir, eine Bewegung meiner Hand, und diese alte Residenz des Zars ist nicht mehr! Mais ma clémence est toujours prompte à descendre sur les vaincus. Ich muß großmütig und wahrhaft groß sein... Aber nein, es ist wohl nicht wahr, dass ich vor Moskau bin" (kam es ihm plötzlich in den Sinn). "Doch da liegt die Stadt ja vor meinen Füßen, und die goldenen Kuppeln und die Kreuze blinken und flimmern in den Sonnenstrahlen. Aber ich werde sie schonen. Auf die alten Denkmäler der Barbarei und des Despotismus will ich die großen Worte "Gerechtigkeit" und "Barmherzigkeit" schreiben. ... Alexander wird das am empfindlichsten berühren; das weiß ich." (Napoleon bildete sich ein, die haptsächlichste Bedeutung dessen, was jetzt geschah, läge in dem persönlichen Kampf zwischen ihm und Alexander.)

Friedensliteratur: Schutz von Gutem
Friedensliteratur: Bewahrung von Schönheit

"Von den Höhen des Kreml - ja, das ist der Kreml, ja! - will ich ihnen gerechte Gesetze geben; ich will ihnen die Bedeutung wahrer Zivilisation zeigen, ich will erreichen, dass ganze Geschlechter von Bojaren den Namen des Eroberers mit Liebe und Verehrung nennen. Ich werde der Deputation sagen, dass ich den Krieg nicht gewollt habe und nicht will; dass ich nur gegen die lügenhafte Politik ihres Hofes Krieg geführt habe; dass ich Kaiser Alexander liebe und achte, und dass ich bereit bin, in Moskau einen Frieen zu schließen, der meiner und meiner Völker würdig ist. Ich will das Kriegsglück nicht zur Erniedrigung ihres verehrten Kaisers benutzen. `Bojaren´, werde ich zu ihnen sprechen, `ich will den Krieg nicht, ich will den Frieden und das Wohlergehen aller meiner Untertanen.´ Übrigens weiß ich, dass ihre Gegenwart mich schon in die rechte Stimmung bringen wird; ich werde zu ihnen sprechen, wie ich immer spreche: klar, feierlich, groß. Aber ist es dann wirklich wahr, dass ich in Moskau bin? Ja, da liegt Moskau."

"Qu´on m´amène les boyards", wandte er sich an sein Gefolge. "Man führe die Bojaren zu mir!"

Ein General mit glänzendem Gefolge sprengte sogleich davon, um die Bojaren zu holen.

Es vergingen zwei Stunden. Napoleon hatte gefrühstückt und stand wieder an derselben Stelle auf dem Poklonnaja-Berg und wartete auf die Deportation. Seine Rede an die Bojaren hatte in seinem Kopf schon feste Gestalt angenommen. Die Rede war voll Würde und voll Majestät, so wie Napoleon diese auffasste.

Die Großmut, die er in Moskau zeigen wollte, berauschte ihn selbst etwas. In Gedanken setzte er schon bestimmte Tage für die réunion dans le palais des Czars an, bei denen die russischen Granden sich mit den Granden des französischen Kaisers treffen sollten. In Gedanken ernannte er einen Gouverneur, einen Mann, der es verstehen würde, die Bevölkerung zu gewinnen. Er hatte gehört, dass es in Moskau viele Wohltätigkeitsanstalten gebe, und beschloss in Gedanken, alle diese Anstalten mit Gnadenbeweisen zu überschütten. Er bildete sich ein, so wie es in Afrika nötig gewesen war, mit einem Burnus bekleidet in einer Moschee zu sitzen, so müsse er sich in Moskau gnadenvoll zeigen wie die Zaren. Und um die Herzen der Rusen vollends zu rühren, wollte er, der wie alle Franzosen, sich nichts Rührendes denken konnte, ohne dass `ma chère, ma tendre, ma pauvre mère´ erwähnt wurde, an allen diesen Anstalten mit großen Buchstaben anschreiben lassen "Establissement dédié à ma chère mère". "Nein, einfach: maison de ma mére", entschied er aber dann bei sich.  "Aber bin ich wirklich in Moskau?" dachte er. "Ja, da liegt die Stadt vor mir! Aber warum dauert es so lange, bis die Deputation aus der Stadt erscheint?" überlegte er. 

 

Unterdessen fand hinten im kaiserlichen Gefolge zwischen seinen Generalen und Marschällen im Flüsterton eine aufgeregte Beratung statt. Die Abgesandten, welche die Deputation herbei holen sollten, waren mit der Nachricht zurück gekehrt, Moskau sei leer, alle Einwohner hätten zu Wagen oder zu Fuß die Stadt verlassen. Die Gesichter der Beratenden waren bleich und erregt. Sie ängstigte nicht der Umstand, dass Moskau von seinen Einwohnern verlassen war (so wichtig dieses Ereignis auch schien), sondern nur die Sorge, wie man dem Kaiser das miteilen solle, wie man, ohne seine Majestät in jene schreckliche Lage zu versetzen, die die Franzosen "le ridicule" nennen, ihm beibringen könne, dass er vergebens so lange auf doe Bojaren gewartet habe, dass es in der Stadt nur noch Haufen von Betrunkenen, aber sonst niemand mehr gebe.  Einige meinten, man solle um jeden Preis eine Art von Deputation zusammenbringen; andere bekämpften diese Meinung und behaupteten, man müsse den Kaiser behutsam und klug vorbereiten und ihm die Wahrheit mitteilen.

"Wir müssen es ihm doch einmal sagen", sagten die Herren des Gefolges. "Aber meine Herren..."

Die Lage war umso fataler, als der Kaiser immer noch über seine großmütigen Absichten nachdachte, geduldig vor dem Stadtplan auf und ab ging und nur zuweilen unter der vorgehaltenen Hand den nach Moskau führenden Weg entlang schaute und heiter und stolz lächelte.

 

"Aber, es ist doch unmöglich...", sagten die Herren des Gefolges wieder und zuckten die Achsel; und niemand wagte, das furchtbare Wort "le ridicule" auszusprechen, das doch allen auf der Zunge lag.

 

Inzwischen war der Kaiser von dem vergeblichen Warten doch müde geworden und fühlte auch mit seinem Schauspielerinstinkt, dass der erhabene Augenblick, der sich zu sehr in die Länge zog, seine Erhabenheit schon zu verlieren begann. Er gab also ein Zeichen mit der Hand. Ein einzelner Schuss der Signalkanone krachte, und die Truppen, die Moskau von verschiedenen Seiten umgaben, rückten durch das Twersche, das Kalugasche und das Dorogomilokskaja-Tor in die Stadt ein. Schneller und immer schneller, sich gegenseitig überholend, im Laufschritt und im Trabe, rückten die Truppen vorwärts, verschwanden in den Wolken des von ihnen aufgerührten Staubes und erfüllten die Luft mit dem verworrenen Getöse ihres Geschreis.

 

Mitgerissen von der Bewegung der Truppen, ritt Napoleon mit ihnen bis zum Dorogomilowskaja-Tor. Dort hielt er wieder an, stieg vom Pferd und ging in Erwartung einer Deputation, lange am Kamerkolleshskij-Wall auf und ab.

 

Moskau aber war leer. Es waren zwar noch Menschen in der Stadt. ungefähr der fünfzigste Teil der früheren Einwohner war noch da; aber die Stadt war leer. Sie war leer wie ein absterbender, weiselloser Bienenstock.

 

In einem weisellosen Bienenstock ist kein Leben mehr, aber bei oberflächlicher Betrachtung erscheint er noch ebenso lebendig wie andere.

 

Ebenso lustig schwärmen in den heißen Sonnenstrahlen der Mittagsonne die Bienen um den weisellosen Stock wie um andere, lebendige Stöcke; ebenso riecht er schon von Weitem nach Honig; ebenso kommen noch Bienen aus ihm heraus. Aber man muss nur aufmerksamer hinsehen, dann merkt man, dass in diesem Stock kein Leben mehr ist. Die Bienen fliegen nicht so, wie die aus lebendigen Stöcken, nicht derselbe Geruch, nicht diesselben Geräusche riecht und hört der Imker. Wenn der Imker an die Wand eines kranken Korbes klopft, dann hört er nicht wie früher sofort die gemeinsame Antwort, den zischenden Ton von Zehntausenden von Bienen, die drohend den Hinterleib heben und mit schnellen Flügelschlägen den luftigen, lebensvollen Laut von sich geben; sondern ihm antwortet nur ein vereinzeltes Summen, das dumpf an verschiedenen Stellen des so gut wie leeren Korbes erschallt. Aus dem Flugloch kommt nicht wie früher der spritige aromatische Geruch des Honigs und des Giftes, auch nicht die Wärme der Vollheit; sondern in den Geruch des Honigs mischt sich ein Geruch von Leere und Fäulnis. Beim Flugloch sind nicht mehr die Wachen zu sehen, die zur Verteidigung des Stocks ihr Leben hingeben wollten, den Hinterleib hoch hoben und Alarm bliesen. Es fehlt der gleichmäßige, leise Ton, das Geräusch der Arbeit, das ähnlich wie siedendes Wasser klingt, man hört nur unharmonische, vereinzelte Töne als Zeichen der Unordnung. In den Stock hinein fliegen scheu und gewandt schwarze, längliche Raubbienen und kommen mit Honig beladen wieder heraus; sie stechen nicht, sondern fliehen vor Gefahren. Früher flogen nur Bienen mit Trachten hinein und kamen leer heraus; jetzt kommen sie mit Trachten heraus. Der Imker öffnet die untere Klappe und schaut in den unteren Teil des Korbes. Statt der früheren, bis auf den Boden hängenden, schwarzen, friedlich arbeitenden Ketten starker Bienen, die einander an den Füßen hielten und unter ununterbrochenem Geräusch der Arbeit Wachs zogen, irren schläfrige, verschrumpelte Bienen ziellos nach verschiedenen Seiten am Boden und an den Wänden des Stockes umher.

Während sonst der Fußboden sauber mit Leim überzogen und durch Wehen mit Flügeln gefegt war, liegen jetzt Wachsbröckchen herum, Exkremente von Bienen, halbtote, kaum noch die Beine bewegende Bienen, und ganz tote, die nicht weggeräumt sind.

Friedensliteratur: Tolstoi: "Der Brand von Moskau"
Friedensliteratur: Tolstoi "Der Brand von Moskau"

Der Imker öffnet den oberen Deckel und beschaut den Kopf des Bienenstocks. Statt der dichten Scharen von Bienen, die sonst an allen Höhlungen der Waben saßen und die Brut wärmten, sieht man jetzt den kunstvollen, komplizierten Bau der Waben nicht mehr im Zustande jungfräulicher Reinheit wie früher. Alles ist vernachlässigt und verschmutzt. Schwarze Raubbienen schlüpfen flink, verstohlen durch die Bauten; die hier heimischen Bienen, die zusammengetrocknet, klein, matt und gealtert aussehen, wandern langsam umher, wehren keinem Eindringling, begehren nichts mehr und haben das Interesse am Leben verloren. Drohnen, Hornissen, Hummeln, Schmetterlinge stoßen einfältig im Fluge gegen die Wände des Bienenstocks. Manchmal lässt sich zwischen den Waben mit toter Brut und Honig noch zorniges Brummen hören. An einer Stelle wollen zwei Bienen aus alter Gewohnheit und Erinnerung ihr Nest, den Bienenstock, reinigen, strengen sich über ihre Kräfte an und schleppen eine tote Hummel oder Biene hinaus, ohne selbst zu wissen, warum sie das tun.  In einer anderen Ecke kämpfen zwei alte Bienen träge miteinander oder reinigen oder füttern sich gegenseitig, ohne sich klar zu sein, ob sie das aus Feindschaft oder Freundschaft tun. An einer dritten Stelle fällt ein dichter Haufen von Bienen über ein Opfer her und schlägt und würgt es; und die ermattete und gemordete Biene fällt langsam und leicht wie ein Flaumfederchen hinunter, auf den Haufen von Leichen. Der Imker wendet zwei der mittleren Waben um, um das Nest zu sehen. Statt der früheren dichten, schwarzen Massen von Tausenden von Bienen, die Rücken an Rücken saßen und die höchsten Geheimnisse der Arterhaltung hüteten, sieht er nur ein paar hundert jämmerliche, halbtote, eingeschlafene Reste von Bienen. Die meisten sind, fast ohne es zu merken, gestorben, während sie auf dem Heiligtum saßen, das sie hüteten und das nicht mehr da ist. Ein Geruch von Fäulnis und Tod geht aus von ihnen. Nur wenige bewegen sich noch, richten sich auf, fliegen matt umher und setzen sich ihrem Feinde auf die Hand, können ihn aber nicht mehr stechen und so sterben; die übrigen, die toten, fallen wie Fisch-Schuppen leicht nach unten. Der Imker schließt den Deckel, macht mit Kreide ein Zeichen an den Stock, und zu geeigneter Zeit entleert er ihn und brennt ihn aus.

 

So leer war Moskau, als Napoleon müde, unruhig und finster, beim Kamerkolleshskij-Wall auf und ab ging und auf die Erfüllung der zwar nur äußerlichen, aber nach seinen Begriffen unumgänglichen Anstandsform wartete: auf das Erscheinen der Deputation.

 

Nur in einigen Winkeln von Moskau liefen noch Menschen, an alten Gewohnheiten fest haltend, sinnlos herum, ohne selbst zu verstehen, was sie taten.

 

Als man dem Kaiser mit der gebührenden Vorsicht mitgeteilt hatte, dass Moskau von den Einwohnern verlassen sei, warf er dem, der die Meldung erstattete, einen wütenden Blick zu, wandte sich ab und wanderte stumm weiter.

"Meinen Wagen!" rief er.

Er setzte sich mit dem diensttuenden Adjutanten in den Wagen und fuhr in die Vorstadt. "Moscou déserte! Moskau von den Einwohnern verlassen! Welch unwahrscheinliches Ereignis!" sagte er zu sich selbst.

Er fuhr nicht in die Stadt, sondern blieb in der Herberge in der Dorogomillowskoje-Vorstadt.

Le coup de théá`tre avait raté!

In der vierten Nachmittagsstunde zogen Murats Truppen in Moskau ein.

Voran ritt eine Abteilung Württemberger Husaren, ihnen folgte zu Pferde mit großem Gefolge der König von Neapel in Person.

 

Etwa in der Mitte des Arbat, nahe bei der Nikola-Jawlennyj-Kirche, hielt Murat an und wartete auf die Meldung der Vorhut über die Lage bei der Zitadelle der Stadt, "le Kremlin".

 

Um Murat sammelte sich ein Häuflein von Einwohnern Moskaus, die in der Stadt geblieben waren. Alle betrachteten mit scheuem Staunen den seltsamen, mit Federn und Gold geschmückten, langhaarigen Heerführer.

"Ja, ist er dasnun selbst, der Zar von denen? Nicht übel!" sprachen leise Stimmen.

Der Dolmetscher ritt auf den Volkshaufen zu.

"Nehmt die Mützen ab...die Mützen!" forderten sich die Leute gegenseitig auf.

Der Dolmetscher fragte einen alten Hausknecht, ob es weit bis zum Krml sei. Der Hausknecht hörte erstaunt die ihm fremde polnische Aussprache und hielt die Worte des Dolmetschers nicht für Russisch; er verstand nicht, was man ihn fragte, und versteckte sich hinter den anderen.

 

Murat näherte sich dem Dolmetscher und befahl ihm, zu fragen, wo die russischen Truppen seien. Einer der Russen verstand, wonach man fragte, und mehrere Stimmen antworteten dem Dolmetscher gleichzeitig. Ein französischer Offizier von der Vorhut kam zu Murat und meldete, das Festungstor sei verrammelt, wahrscheinlich liege dort ein Hinterhalt. "Gut", sagte Murat, wandte sich an einen der Herren seines Gefolges und gab Befehl, mit vier leichten Geschützen das Tor zu beschießen.

 

Die Artillerie kam im Trabe aus der Kolonne hinter Murat und fuhr den Arbat entlang weiter. Am Ende der Wosdwishenka machte sie Halt und nahm auf dem Platz Aufstellung. Ein paar französische Offiziere trafen bei den Geschützen ihre Anordnungen, stellten sie auf und schauten durch ein Fernrohr nach dem Kreml.

 

Im Kreml ertönten die Vesperglocken, und das Geläut machte die Franzosen stutzig. Sie hielten es für einen Aufruf zu den Waffen. Ein paar Infanteristen liefen nach dem Kutafjewskija-Tor. Das Tor war mit Balken und Brettern verrammelt. Zwei Gewehrschüsse fielen aus dem Tor, als der Offizier mit seinen Leuten sich näherte. Der General bei den Kanonen rief dem Offizier einige Kommando-Worte zu, und der Offizier eilte mit seinen Soldaten zurück.

Es fielen noch drei Schüsse aus dem Tor.

Ein Schuss streifte einen französischen Soldaten am Bein, und seltsames Geschrei nur weniger Stimmen ertönte hinter dem verrammelten Tor. Auf den Gesichtern der Franzosen, des Generals, der Offiziere und der Soldaten wich wie auf Kommando der bisherige, heitere, ruhige Ausdruck einem energischen, gespannten Ausdruck der Bereitschaft zu Kampf und Leiden. Für sie alle, vom Marschall bis zum Gemeinen, war dieser Ort nicht die Wosdwishenka, Mochowaia, das Kutafwjeskija- und Troizkija-Tor, sondern einfach die Stätte eines neuen, wahrscheinlich blutigen Kampfes. Alle rüsteten sich zu diesem Kampf. Die Rufe aus dem Tor waren verstummt. Die Geschütze standen vorn.

Friedensliteratur: Warnung vor dem Krieg
Friedensliteratur: "Der Brand von Moskau"

Die Artilleristen bliesen die glimmenden Lunten an. Der Offizier kommandierte:"Feu!", und zwei pfeifende Töne von Blechbüchsen ertönten nacheinander. Die Kartätschenkugeln prasselten gegen die Steine des Tores, gegen die Balken und Bretter, und zwei Rauchwolken stiegen auf dem Platz auf. Gleich nachdem die Kugeln gegen den steinernen Kreml geprasselt waren, erscholl ein seltsames Geräusch über den Köpfen der Matrosen. Ein riesiger Dohlenschwarm erhob sich über den Mauern und schwirrte mit lautem Kreischen und Schlagen vieler tausend Flügel in der Luft umher. Zugleich mit diesem Geräusch ertönte der Schrei einer einzelnen menschlichen Stimme im Tor, und aus dem Rauch erschien ein Mensch ohne Mütze, in einem Kaftan. Er hielt ein Gewehr in der Hand und zielte auf die Franzosen. "Feu!" kommandierte der Artillerieoffizier wieder, und gleichzeitig knallten ein Gewehrschuss und zwei Kanonenschüsse. Rauch verhüllte wieder das Tor.

 

Hinter den Brettern rührte sich nichts mehr, und die französischen Infanteristen mit ihren Offizieren gingen zu dem Tor. Im Tor lagen drei Verwundete und vier Tote. Zwei Leute in Kaftanen liefen unten an den Mauern entlang nach der Snamenka zu.

 

"Enlevez-moi ca!" sagte ein Offizier, auf die Balken und die Leichen weisend. Die Franzosen töteten die Verwundeten vollends, und warfen die Leichen über die Festungsmauer hinab.

 

Wer diese Menschen waren, das wusste niemand. Es hieß einfach: "Enlevez-moi ca!" Dann wurden sie hinunter geworfen und später beiseite geschafft, damit sie keinen üblen Geruch verbreiteten. Nur Thiers hat ihrem Andenken ein paar beredte Zeilen gewidmet: "Diese Elenden waren in die heilige Zitadelle eingedrungen, hatten sich einiger Gewehre aus dem Arsenal bemächtigt und schossen nun (diese Elenden) auf die Franzosen. Man hieb einige von ihnen nieder und reinigte den Kreml von ihrer Gegenwart."

Murat wurde gemeldet, der Weg sei frei. Die Franzosen rückten durch das Tor ein und lagerten sich auf dem Senatsplatz. Aus den Fenstern des Senatsgebäudes warfen die Soldaten Stühle auf den Platz hinaus und machten damit Feuer.

 

Andere Abteilungen zogen durch den Kreml hindurch und lagerten sich in der Morosejka, Lubianka, Prokrowka. Noch andere zogen auf die Wosdwishenka, Snamenka, Nikolskaja und Twerskaja. Überall aber nahmen die Franzosen, die keine Hausbesitzer mehr vorfanden, nicht Quartiere, wie sonst in einer Stadt, sondern sie waren wie in einem in einer Stadt aufgeschlagenen Lager.

 

Die französischen Soldaten kamen zwar abgerissen, hungrig, ermattet und auf die Hälfte ihrer ursprünglichen Zahl herabgesetzt in Moskau an, aber doch immer noch in guter Ordnung. Sie waren ein ermüdetes, erschöpftes, aber doch noch kampffähiges, ernst zu nehmendes Heer. Aber ein Heer waren sie nur so lange, bis sie sich in Quartiere verteilten. Als die Leute sich aus den Regimentern in die verlassenen, reichen Häuser verteilt hatten, war das Heer für immer dahin - sie waren jetzt weder Zivilisten, noch Soldaten, sondern ein Mittelding, das, was man Marodeure nennt. Als fünf Wochen später diesselben Leute Moskau verließen, waren sie keine Armee mehr. Es war ein Haufen von Marodeuren, von denen jeder eine Menge Dinge mitschleppte, die ihm wertvoll und notwendig schienen. Beim Abzug von Moskau sah keiner von den Leuten mehr, wie früher, sein Ziel darin, Eroberungen zu machen, sondern nur darin, das Erworbene festzuhalten. Wie ein Affe, der die Hand in den engen Hals eines Kruges gesteckt und eine Handvoll Nüsse gepackt hat, seine Faust nicht öffnet, weil er das Ergriffene nicht verlieren will, und so sein Verderben herbei führt, so mussten die Franzosen beim Abzug von Moskau zu Grunde gehen, weil sie ihren Raub mitschleppten und es ebenso wenig fertig brachten, ihn wieder fort zu werfen, wie der Affe die Hand mit den Nüssen nicht aufmachen kann. Zehn Minuten nach Einrücken eines französischen Regiments in einen Stadtteil von Moskau hatte es schon keinen Soldaten und keinen Offizier mehr. Durch die Fenster der Häuser konnte man Leute in Mänteln und Stiefeletten sehen, die lachend durch die Zimmer wanderten; in den Kellern schalteten die gleichen Leute unter den Vorräten; auf den Höfen öffneten oder erbrachen sie die Tore der Schuppen und Ställe, in den Küchen machten sie Feuer, buken mit aufgestreiften Ärmeln, kneteten und kochten, erschreckten Frauen  und Kinder, brachten sie zum Lachen und liebkosten sie. Von solchen Leuten war in Läden und Häusern eine große Menge; aber eine Armee gab es nicht mehr!  

 

Noch am gleichen Tag erließen die französischen Heer-Führer einen Befehl nach dem anderen: Es solle den Truppen verboten werden, sich in der Stadt zu zerstreuen; es solle ihnen streng verboten werden, Gewalttaten gegen die Einwohner zu verüben und zu marodieren; es solle noch heute Abend ein Appell stattfinden....Aber trotz aller Maßregeln liefen die Leute, die vorher Armee waren, nach allen Seiten in der reichen, mit Vorräten versehenen Stadt auseinander. Wie eine hungrige Herde über ein kahles Feld geschlossen dahinzieht, sich aber sofort unaufhaltsam auflöst, wenn sie auf eine fette Weide kommt - ebenso unaufhaltsam löste sich auch die Armee in der reichen Stadt auf.


Einwohner gab es in Moskau kaum noch, und die Soldaten strömten vom Kreml, wo sie zuerst eingezogen waren, hemmungslos, sternförmig nach allen Richtungen auseinander, versickerten wie Wasser im Sande.

 

Kavalleristen kamen in ein Kaufmannshaus, in dem die Besitzer ihre ganze Habe zurück gelassen hatten, und fanden dort Ställe nicht nur für ihre Pferde,sondern sogar mehr als nötig, und nahmen doch nebenan ein anderes Haus, das ihnen noch besser schien. Viele nahmen gleich mehrere Häuser und schrieben mit Kreide an, wer sie innehabe, und stritten und schlugen sich sogar mit anderen Abteilungen darum. Ohne noch richtig einquartiert zu sein, liefen die Soldaten schon wieder auf die Straße, um die Stadt zu besehen, und als sie hörten, dass alles verlassen sei, eilten sie dahin, wo man umsonst Kostbarkeiten nehmen konnte. Die Kommandeure gingen umher, um dem Treiben der Soldaten ein Ende zu machen, wurden aber unwillkürlich selbst hineingezogen. Im Karetnyj-Riad waren in einzelnen Läden noch Equipagen zurück geblieben, und dort drängten sich die Generäle und suchten sich Kaleschen und Kutschen aus. Die zurück gebliebenen Einwohner luden die höheren Offiziere zu sich ins Quartier ein, in der Hoffnung, sich dadurch vor Plünderung zu schützen. Die Reichtümer waren unermesslich, es war kein Ende abzusehen; um die von den Franzosen besetzten Stadtteile herum lagen noch andere, undurchsuchte, unbesetzte Gegenden, in denen nach Ansicht der Franzosen noch mehr Reichtümer sein mussten. Und Moskau sog die Franzosen immer weiter in sich auf. Wie, wenn man Wasser auf trockene Erde gießt, das Wasser und auch die trockene Erde verschwinden, so gab es jetzt, weil das hungrige Heer in die reiche, menschenleere Stadt einrückte, kein Heer mehr und auch keine reiche Stadt; und das Ergebnis ist da Schmutz und war hier Feuersbrand und Marodieren.

 

Die Franzosen schrieben den Brand von Moskau dem "patriotisme feroce de Rostoptchine" zu, die Russen dem Fanatismus der Franzosen. In Wirklichkeit hat es Ursachen des Brandes von Moskau in dem Sinne, dass man für diesen Brand eine oder mehrere Personen verantwortlich machen könnte, gar nicht gegeben, und es konnte sie auch nicht geben. Moskau brannte nieder, weil unter den gegebenen Verhältnissen jede hölzerne Stadt abbrennen musste, ganz gleich, ob in ihr hundertdreißig schlechte Feuerspritzen vorhanden waren oder nicht. Moskau musste nieder brennen, weil die Einwohner fort gezogen waren; das war so unausbleiblich, wie ein Haufe von Hobelspänen verbrennen muss, auf den mehrere Tage lang Funken nieder regnen. Eine hölzerne Stadt, in der, selbst wenn die Einwohner, die Hauseigentümer, da sind und die Polizei in Tätigkeit ist, doch fast täglich Brände vorkommen, muss abbrennen, wenn keine Einwohner da sind, sondern nur Truppen in ihr hausen, die Pfeifen rauchen, auf dem Senatsplatz Feuer mit Senatsstühlen anmachen und zweimal täglich abkochen. Wenn in Friedenszeiten Truppen in einer bestimmten Gegend in den Dörfern in Quartier liegen, so steigt sofort die Zahl der Brände. Also wie viel mehr muss die Wahrscheinlichkeit von Bränden in einer von Einwohnern verlassenen, hölzernen Stadt steigen, in der ein fremdes Heer kampiert! Le patriotisme feroce de Rostoptchine und der Fanatismus der Franzosen hatten daran keine Schuld. Moskau ist abgebrannt durch Tabakspfeifen, Küchen, offene Feuer, durch die Nachlässigkeit der feindlichen Soldaten, die in Häusern wohnten, die ihnen nicht gehörten. Wenn wirklich Brandstiftungen vorkamen (was sehr zweifelhaft ist, weil niemand einen Anlass zur Brandstiftung hatte, eine solche vielmehr nur mühsam und gefährlich war), so kann man doch die Brandstiftungen nicht als Ursache nehmen, denn ohne Brandstiftungen wäre genau dasselbe geschehen.


Wenn es auch für die Franzosen sehr verlockend war, Rostoptschin der Brutalität zu beschuldigen, oder für die Russen, den Bösewicht Bonaparte anzuklagen, oder später dem eigenen Volk die heroische Brandfackel in die Hand zu drücken, muss man schließlich doch sehen, dass eine solche unmittelbare Ursache des Brandes gar nicht vorliegen konnte, weil Moskau einfach abbrennen musste, wie jedes Dorf, jede Fabrik, jedes Haus abbrennt, wenn die Eigentümer fortgehen und zulassen, dass fremde Leute allein darin hausen und ihre Grütze kochen. Moskau ist von seinen Einwohnern eingeäschert worden, das ist wahr, aber nicht von den Einwohnern, die noch in der Stadt waren, sondern von denen, die fortgezogen waren.

 

Als Moskau vom Feind besetzt war, blieb es nur deshalb nicht unversehrt wie Berlin, Wien und andere Städte, weil seine Einwohner, statt den Franzosen Brot und Salz darzubringen und die Schlüssel zu überreichen, die Stadt verlassen hatten.

Quellen

Tolstoi, Leo: "Der Brand von Moskau" In: " ´s ist Krieg" Diogenes Zürich 1984

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