Max Frisch "Story"

Friedensliteratur Krieg bringt Elend in den Familien
Friedensliteratur: Krieg bringt Elend in den Familien

Story

In einem kleinen Bauernhof lebte eine Frau, deren Mann, damals ein junger Soldat, während des ersten Weltkrieges in russische Gefangenschaft kam. Da sie nach vielen Jahren immer noch mit der Rückkehr ihres Mannes rechnete, galt die Frau als verrückt; die Nachbarn erzählten sich, daß sie sein Bett immer wieder mit frischer Wäsche bezog, und obschon sie durchaus kein Zeichen von ihm hatte, war sie von der Überzeugung, daß er immer noch lebte, nicht abzubringen, zehn Jahre nach dem ersten Weltkrieg, zwanzig Jahre.

"Dann kam der zweite Weltkrieg. Die Frau überlebte ihn; in allen Dingen, die nicht ihren verschollenen Mann betrafen, wirkte sie durchaus vernünftig. An ihrem stillen, unausgesprochenen, nur durch ihr Verhalten bezeugten Wahn, daß ihr Mann eines schönen Tages zurückkehren würde, änderte auch der zweite Weltkrieg nichts.

"Wieder gab es Hunderttausende von Frauen, die auf ihre Männer aus Rußland warteten, gläubig oder ungläubig. Unter den ersten, die wirklich wiederkehrten, war ein sehr alter Mann, den die Nachbarn, als er sich bei ihnen meldete, tatsächlich als den Mann jener Verrückten erkannten; er erkundigte sich, ob seine Frau noch lebte und erfuhr, daß sie nie an seinen Tod geglaubt hätte.

"Erst nach dieser Kundschaft wagte er es, sich dem Hause zu nähern. Die Nachbarn warteten bis zum anderen Morgen, ehe sie hinübergingen, um zu sehen und zu hören, wie die Frau mit dem unwahrscheinlichen Ereignis fertig würde.

"Man traf sie gänzlich in Ruhe, unverändert, wobei sich zeigte, daß sie von dem Mann, der gestern gekommen war, überhaupt nichts wußte. Sie glaubte ihren Nachbarn nicht ein Wort, bis die Nachforschungen ergaben, daß die Nachbarn sie nicht zum Narren hielten und daß sie, die achtundzwanzig Jahre lang an seine Rückkehr geglaubt, sich nicht verstiegen hatte: man fand seine Leiche in der Jauchegrube, die sich beim hinteren Eingang befindet."

Quellen