Leo N. Tolstoi: Krieg und Frieden

 

C.Bertelsmann Verlag

 

Seite 123

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Von meinem Bruder habe ich einen Brief erhalten, der mir seine Ankunft mit seiner Frau ankündigt. Diese Freude wird von kurzer Dauer sein, da er uns verläßt, um an diesem Kriege teilzunehmen, in den wir hineingezogen werden, Gott weiß wie und warum. Selbst bei uns in unserer Einsamkeit macht sich der Krieg bemerkbar. Vorgestern abend habe ich auf meinem gewöhnlichen Spaziergange eine herzzerreißende Szene erlebt. Es war eine Abteilung Rekruten, die bei uns ausgehoben worden waren und zur Armee abgesandt werden sollten. Man mußte sehen, in welchem Zustand sich die Mütter, Frauen und Kinder derjenigen befanden, welche abgingen. Man mußte ihr Weinen und Jammern hören! Man glaubt, die Menschen haben die Gesetze ihres göttlichen Erlösers vergessen, der uns gelehrt hat, zu lieben und Beleidigungen zu verzeihen, und dass die Menschen es für eine große und wichtige Kunst betrachten, sich gegenseitig zu morden. Nun leben Sie wohl, liebste, teuerste Freundin, unser göttlicher Erlöser und seine allerheiligste Mutter nehme Sie unter ihren heiligen, mächtigen Schutz!

 

Seite186

Wird die Brücke in Brand gesteckt oder nicht? Wer wird zuerst sein Ziel erreichen? Werden wir zuerst herankom men, oder wird der Franzose rechtzeitig mit Kartätschen schießen und uns daran hinddern?

 

Seite 250

Obwohl befohlen worden war, dass man sich nicht um die Verwundeten kümmern sollte, nahm man deren viele mit, die sich hinter den Truppen herschleppten und um Erlaubnis baten, sich auf die Geschütze setzen zu dürfen.

"Hauptmann, um Gottes Willen, ich habe eine Quetschung am Arm", sagte er schüchtern, "um Gottes Willen, es ist mir unmöglich zu gehen! Um Gottes Willen!"

Man konnte merken, dass dieser Junker schon öfter um die Erlaubnis gebeten hatte, aufsteigen zu dürfen, und überall zurückgewiesen worden war. Er hatte mit unsicherer und kläglicher Stimme gebeten.

"Befehlt, dass man mich aufsteigen lässt, um Gottes Willen!"

"Nehmt ihn mit, nehmt ihn mit!", sagte Tuschin. "Leg ihm einen Mantel unter, Onkel!", wandte er sich an einen seiner Lieblingssoldaten. "Aber wo ist der verwundete Offizier geblieben?"

"Wir haben ihn heruntergenommen; er hat sein Leben beendet", antwortete jemand.

 

Seite 232

Verwundete kamen ihm und seiner Begleitung entgegen. Ein Soldat mit blutendem Kopf und ohne Mütze wurde von zwei Soldaten, die ihn unter den Armen stützten, geschleppt; er röchelte und schluckte; augenscheinlich war ihm die Kugel in den Mund oder in die Kehle geflogen. Ein anderer ging tapfer allein, ohne Gewehr, stöhnte laut und schwenkte seinen schmerzenden Arm, aus dem das Blut wie aus einer Flasche auf seinen Mantel floss. Sein Gesicht schien eher erschrocken als leidend. Erst vor einer Minute war er verwundet worden.